Peter Sloterdijk vorzustellen hieße beinahe Eulen nach Athen tragen: Der Philosoph, Redner und Autor hat mit seinem
"Kontinent ohne Eigenschaften" mit dem Bild der "Lesezeichen im Buch Europa" wiederum ein nachdenkliches und
grundsätzliches Werk vorgelegt (ich betrachte die 1. Auflage), das im wahrsten Sinn zeitgenössisch und aktuell ist:
Europa, eine Gruppe reichlich unterschiedlicher Staaten, Völker, Sprachen, Mentalitäten, des Autors Suche nach
"dem Europäer" (und auch "der Europäerin") wirkt reichlich bemüht und m. E. nicht wirklich überzeugend.
Neben dem vielen Lob und der verdienten Anerkennung für das Werk in verschiedenen Besprechungen, sollen
meine Notizen Fragen stellen und Zweifel anmelden, um dem umfangreichen Werk ebenfalls gerecht zu werden.
Meine Anfragen beziehen sich zunächst auf Skizzen zur Weltsituation. Kann wirklich bis 1990 von einer bipolaren
Welt pauschal ausgegangen werden? Ist nicht die Blockfreienbewegung seit den sechziger Jahren als zunehmend
eigene Größe anzusehen? Ein "liberaler Konsumismus", vom "Westen" ausgehend, ist in weiten Bereichen weltweit
zunehmend: Aber angesichts des Hungers von hunderten Millionen: Ist dieser "liberale Konsumismus" wirklich die
Situation der Stunde? Und führt das wirklich zum Gefühl einer "beruhigten Endlichkeit"? Das stimmt doch höchstens
für große Teile der Bewohner Europas!
Und diese Bewohner sind deutlich gegliedert beispielsweise in Stadt und Land- und das führt zunehmend zu Mißmut,
der nicht ursächlich rechtsradikal ist, sondern sich in einem derartigen Votum äußert, wenn er von den "klassischen"
Parteien (einschl. Kommunisten) nicht aufgenommen wird.
Das führt unweigerlich zu Fragen, die die Religion betreffen. Der Autor arbeitet durchaus intensiv mit dem Blick auf
Religion und Kirche, aber in eigentümlicher Weise. So ist für ihn das Instrument der Selbstkritik der alten KPDSU
nach dem Muster dse Sündenbekenntnisses angelegt (vielleicht), das ZK der Kirche legt im 3./4. Jahrhundert einige
Dogmen fest (ziemlich lächerlich, Konzilien mit Dutzenden von Teilnehmern mit beispielsweise Stalins ZK zu vergleichen)
und gar die geradezu unsinnigen langatmigen Überlegungen zur Ausscheidung von eucharistischem Brot und Wein
(als Gestalten wie anderes auch) - in einem Zusammenhang mit diskreter Theophagie: Was soll das?
Eine historische Fragestellung sei hier angeführt: Die Anmerkungen zum byzantinischen Reich, in gewisser Weise der
Nachfolger Roms: Das Reich hatte eintausend Jahre Bestand! So stellt Sloterdijk fest - um im Text früher von der
"tausendjährigen oströmischen Verfallsverlängerung" zu sprechen?
Völlig zutreffend sind des Autors Überlegungen zu Bibel-Übersetzungen: Was macht die Übersetzung mit dem Text?
Gilt natürlich für jede Übersetzung, möchte ich als informationswissenschaftler hinzufügen. Und nur unterstreichen kann
man die (sehr knappe) Betrachtung der Sklaverei - die bis in unsere Tage gilt. (Wohlfahrtsorganisationen kaufen noch
heute Sklaven frei!)
Peter Sloterdijk stellt aber doch eine Eigenschaft Europas fest: Die Religionslosigkeit - im Gegensatz zu den anderen
Teilen der Erde. Gleichzeitig steht er mit Recht zur Stellung der Juden in Europa - und damit zu ihrer Religion. Und von
den Millionen Muslimen in Europa ist sehr wenig die Rede. Doch das führt zu einer zweiten Eigenschaft des angeblichen
eigenschaftslosen Europa: Europa ist Zufluchtsort, wohl auch Sehnsuchtsort für Millionen!
Eine hübsche, desillusionierende, aber wohl nur halbwahre Quitessenz besteht darin: Das agierende Europa (kulturell auf
römischer Basis) befindet sich derzeit an der Ostküste der USA.